Antisemitismus
Die deutsch-britische Historikerin jüdischer Herkunft Eva Gabriele Reichmann lieferte 1945 zum Thema "Antisemitismus" eine umfangreiche Arbeit, die heute weder in der Antisemitismus-Forschung noch in den zahlreichen Verlautbarungen zu dem Thema Beachtung findet. Ansonsten wären viele Aussagen so nicht erschienen und gegen die Bevölkerung gerichtete Vorwürfe nicht erhoben worden. In Die Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe (veröffentlicht 1951) sucht Eva Reichmann eine Antwort auf den Holocaust und auf die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland nach diesen furchtbaren Verbrechen. Bei der Behandlung des Antisemitismus unterscheidet sie zwischen der Zeit vor dem 30. Januar 1933 und nach der Machtergreifung der Faschisten. Sie nimmt die demokratischen Parteien und die Demokraten der Weimarer Republik nicht aus der Verantwortung, diese Katastrophe mit wirkungsvollen Gegenmaßnahmen bereits vor dem 30. Januar 1933 verhindert zu haben. Sie weist aber auch nach, dass der "Antisemitismus" der deutschen Bevölkerung nicht so ausgeprägt war, wie heute immer wieder behauptet, aber durch den Nationalsozialismus in einer Form Verwendung fand, die letztlich jegliche moralische, ethische und menschliche Vorbehalte gegen die Tötung von Nachbarn, Mitbürgern, Menschen in großen Teilen der deutschen Bevölkerung auslöschte.
Das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland hätte von sich aus niemals zu einem radikalen Antisemitismus, wie er im Nationalsozialismus zutage trat, Anlaß gegeben, wenn nicht der weitgehende gesellschaftliche Zerfall durch Krieg und Nachkriegskrise alle auflösenden Faktoren außerordentlich verstärkt und die Ordnungskräfte lahmgelegt hätte. (1)
Sie spricht von einem "Versagen der Demokratie" an den entscheidenden Schnittpunkten der zur nationalsozialistischen Machtergreifung hinführenden Entwicklung. Befriedigend hätte die Demokratie jedoch nur wirken können, "wenn sie sich auf moralische Reserven aus langjährigen demokratischen Sympathien und Traditionen hätte stützen können". (Ebenda, S. 386)
Die überwältigende Mehrheit hoffte natürlich, ihre Lage in sehr realer Weise zu verbessern, und war in dieser Zielsetzung durchaus „rational“. Bis zu einem gewissen Grade rational war auch noch die Erwägung, es einmal mit der „neuen“ Partei versuchen zu wollen, da alle alten „abgewirtschaftet“ hätten. (Ebenda, S. 347)
An der Verschleierung von politischen Problemen hatte das Volk kein Interesse: es hatte ein Interesse an ihrer Feststellung und Lösung. An der Verschleierung interessiert war aber die nationalsozialistische Führung, der es bis zur Machtergreifung lediglich um das Gewinnen von Massenanhang zu tun war. (Ebenda, S. 349)
Doch wie stand es um den Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung?
Trotz zahlreichen Schwierigkeiten hatte das bessere Kennenlernen von Juden und Nichtjuden es vermocht, abergläubische Vorstellungen zu verdrängen, Vorurteile und ungerechte Verallgemeinerungen wesentlich zu vermindern. Aus der Gewalt der historischen Ereignisse, die nachher hereinbrechen mußten, um das Gewebe der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen wieder auseinanderzureißen, kann geschlossen werden, wie fest es trotz allen Hemmnissen gefügt war. (Ebenda, S. 388)
Es gab Unterschiede im Verhältnis von Juden und Nichtjuden in den Ballungszentren einerseits sowie in den Kleinstädten und auf dem flachen Land andererseits. Die im Land Brandenburg mit der Geschichte ihrer Heimatorte, -städte und -regionen befassten Frauen und Männer könnten mit ihren Forschungsergebnissen zu einer differenzierteren Bewertung der historischen Situation beitragen und helfen, dass die in der Geschichte begangenen Fehler nicht wiederholt werden.
Bezogen auf das Judentum und seine Zukunft formuliert Eva Reichmann Aufgaben, die sie den Juden stellt, die aber auch von Nichtjuden beachtet werden sollten. Wollen beide Seiten in einer Weise miteinander leben, die keinen Platz für Ressentiments gegeneinander und schon gar keinen für Hass lässt.
Die Analyse des Zusammenlebens zwischen Juden und Nichtjuden vor 1933, so Eva Reichmann, lehrt uns, die Tatsache nicht gering zu achten, daß die Juden überall, wo sie leben und den Willen haben, sich als Juden zu erhalten, eine Minderheitengruppe bilden und allen Gefahren eines solchen Status ausgesetzt sind. Sie müssen daraus gewisse Folgerungen ziehen, auch dann, wenn sie selbst sich ihrer Gruppenzugehörigkeit kaum noch bewußt sind. Sie müssen lernen, sich nicht nur mit den eigenen Augen, sondern auch mit den Augen der Umwelt zu sehen. Sie sollten sich bewußt sein, daß diese doppelte Sicht und ein sich aus ihr möglicherweise ergebendes Verhalten einem Zugeständnis an die menschliche Unvollkommenheit entspringen. Es ist der Preis, den die Juden für ihre Existenz als permanente Minderheit zu zahlen haben. Sie haben diese Rücksicht zu nehmen, nicht weil sie durch ihre Außerachtlassung der Mehrheitsgesellschaft einen tatsächlichen Schaden zufügen: im Gegenteil, eine erhöhte Bewußtheit ihrer Minderheitenposition auf jüdischer Seite kann dazu führen, daß nicht alle verfügbaren jüdischen Kräfte der Umwelt so rückhaltlos zur Verfügung gestellt werden, wie es ohne sie der Fall wäre. Die Rücksicht entspringt vielmehr der Einsicht, daß auch nützliche Gaben einer Minderheit an eine Mehrheit manchmal der Mehrheit nicht zum Segen und der Minderheit zum Verhängnis werden können, vor allem, wenn in Krisenzeiten die Gruppenspannung die Maßstäbe verzerrt. Je mehr diese Gefahr erkannt wird, die in der „Verschiebung“ der immer vorhandenen Aggressivität auf Untergruppen besteht, desto wirksamer wird ihr begegnet werden können. (Ebenda, S. 389 f.)
Die vor 1933 in Deutschland vorhandenen jüdischen Gemeinden sind durch die Vertreibung und Vernichtung ihrer Mitglieder bzw. potentiellen Mitglieder ausgelöscht worden. Die von den Mitgliedern finanzierten und mit ihren Geldern am Betrieb gehaltenen Gotteshäuser wurden zerstört oder in ihrer Nutzung zweckentfremdet. Im westlichen Teil Deutschlands entstand nach 1945 neues jüdisches Leben, das an die Vorkriegsgeschichte anknüpfte bzw, anzunüpfen versuchte. Die religiöse liberale Ausrichtung wurde in den 1990er Jahren mit der Zuwanderung von Menschen aus Gebieten der Sowjetunion und deren Hinführung zum Judentum gefährdet.
Die sich als Juden definierenden Menschen - in der Sowjetunion war Jude eine Nationalität und keine Bezeichnung für Mitglieder einer Religionsgemeinschaft -, die sich in Deutschland niederließen, waren der jüdischen Religion und Sprache (Hebräisch) unkundig. Hier setzte die die religiöse jüdsche Gruppierung Chabad-Lubawitsch an. Sie entsandte Ehepaare (Schluchim), die jüdische Gemeinden aufbauten und deren Mitglieder mit jüdisch-orthodoxer Ausrichtung unterrichteten. Die wenigsten jüdischen Zuwanderer waren religiös und wären sie gefragt worden. ob sie sich finanziell am Bau eines eigenen Gotteshauses beteiligen würden, hätten sie womöglich mit "Nein" geantwortet. Die Gemeinde war für sie weniger religiös determiniert als sozial und kulturell. Sie war ein sicherer Ort, von dem aus jene, die sich vollständig integrieren wollten, die ersten Schritte dazu unternahmen. Sehr viele der neuen Zuwanderere hatten dazu aber weder die Kraft noch den Willen. Was zu heftigen Konflikten in den neu entstandenen Gemeinden führte, aber auch in den auf eine lange Nachkriegstradition verweisenden.
Die Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen Gemeinden blieben nicht auf diese beschränkt. Die nichtjüdische Öffentlichtkeit nahm sie teilweise als "Kampf um die vom Staat gewährten Geldmittel" wahr.
Der Staat, im konkreten Fall das Land Brandenburg, fand keine Antwort darauf, wie mit den Konflikten umgegangen werden sollte. Pragmatische Kräfte innerhalb der jüdischen Gemeinden wurden allein gelassen. Konkurrenten, die sich mit Intrigen durchsetzen konnten, wurden als "Vertreter der jüdischen Gemeinde" hofiert. Besonders problematisch war und ist die Einmischung des Staates in die inneren Angelegenheiten der religiösen Gemeinschaften. Begründet wurde dies mit großzügigen Geld- oder Immobiliengeschenken verbundene Eingreifen mit Wiedergutmachung. Kein Gedanke wurde daran verschwendet, dass die möglichen Adressaten der Wiedergutmachung nicht mehr lebten oder sich gezwungenermaßen außerhalb Deutschlands eine neue Existenz hatten aufbauen müssen. Auch kein Gedanke wurde daran verschwendet, dass die orthodox religiöse Ausrichtung der neuen jüdischen Gemeinden in keinem Verhältnis zu der liberal religiösen Positionierung der Vorkriegsgemeinden stand.Antisemitismus aktuell
Der Antisemitismus ist nicht verschwunden. Die zeitlich versetzte und unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Länder wird dafür sorgen, dass es dabei auch noch länger bleiben wird.
Es geht über unsere Kraft wie über die Kraft eines jeden, dem prophetische Gaben versagt sind, zu behaupten: das deutsche Beispiel kann und wird sich nicht wiederholen. Aber es darf als Ergebnis unserer Analyse gesagt werden: das deutsche Beispiel braucht sich nicht zu wiederholen, ja: es wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wiederholen. (Ebenda, S. 392)
Wohl aber enthält die Judenkatastrophe in Deutschland eine Warnung und eine Lehre. Es ist vor allem anderen ... die Frage nach den Rückschlüssen aus der deutschen Judenkatastrophe auf die Judenheiten anderer Länder, zu der wir mit der vorstehenden Untersuchung einen Beitrag zu liefern versuchten. Sie ist es, die uns bewog, zeitliche und örtliche Faktoren zu trennen, das Gewicht der Krise richtig einzuschätzen und die verschiedenen Gründe für die Reaktion des deutschen Volkes so genau zu prüfen, wie das vorhandene Tatsachenmaterial es zuließ. Wir haben aus dieser Analyse gelernt, daß gewisse Gefahrenquellen überall fließen. Die chronische Erschwerung des Daseinskampfes und die Disposition weiter Volksschichten zu gefühlsmäßig motivierten politischen Entscheidungen sind solche überall vorhandenen Gefahren. (Ebenda, S. 388 f.)
In Deutschland jedenfalls ist der Antisemitismus nicht ausgeprägter, wie z. B. in Frankreich, Großbritannien oder in den USA. Träger des aktuellen Antisemitismus sind vor allem durch radikale religiöse Imame oder durch Islamisten beeinflusste muslimische Zuwanderer.
Die nach Brandenburg Anfang der 1990er Jahre aus der Sowjetunion gekommenen Zuwanderer haben sich integriert. Sie sind Bürgerinnen und Bürger dieses Staates und leben mit den hier geborenen Menschen zusammen. Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe sind Gotteshäuser wie alle anderen auch bzw. wie die kommunalem Friedhöfe. Je normaler das alles so gesehen und damit umgegangen wird, um so besser für Juden und Nichtjuden.
Es gab und gibt Angriffe auf Synagogen. Es gab und gibt Zusammenstöße zwischen Nichtjuden und Juden, aber auch zwischen Juden und Nichtjuden; vorwiegend verbal, jedoch auch mit Anwendung körperlicher Gewalt. Jeder einzelne Vorfall ist es wert, sachlich erfasst und ausgewertet zu werden. Sie propagandistisch auszuschlachten, trägt nicht zur Beruhigung und Versachlichung bei. Ganz im Gegenteil!Es gibt Antisemitismus von Heranwachsenden. Es gibt Antisemitismus von Erwachsenen. Es gibt Antisemitismus gezielt provozierende Aktionen, und es gibt Antisemitismus behauptende Aktionen (z. B. Gil Ofarim). Daneben erleben wir immer wieder Fälle, wo Menschen zum Judentum konvertieren (Walter Homolka) oder in hochstaplerischer Weise ein Judentum behaupten, weil sie sich von dem Minderheitsstatus persönlich und berufliche Vorteile versprechen. Als Antisemit wurde auch jede Person eingeordnet, die es wagte, Kritik an der Gesetzestreuen Jüdischen Landesgemeinde Brandenburg mit Sitz in Potsdam zu üben oder sich deren Forderungen entgegenzustellen.
Organisierte Besuche in Konzentrations- oder Vernichtungslagern tragen nicht dazu bei, ihre Teilnehmer gegen den Antisemitismus immun zu machen. Das Verlegen von Stolpersteinen zum Gedenken an einst hier lebende Menschen jüdischen Glaubens oder durch die nationalsozialistische Rassentheorie zu Juden gemachten Mitbürgerinnen und -bürgern ist lobenswert. Aber auch umstrittene Form des Erinnerns und vor allem nicht nachhaltig wirkend. Es gibt wirkungsvollere, wie z. B. in der Synagoge von Worms. Eine Tafel mit den Namen der Ende der 1930er Jahre in Worms lebenden jüdischen Einwohner verzeichnet, wer umgebracht worden ist, sondern auch sich retten konnte. Die Vielschichtigkeit der Einwohnerschaft und ihrer Schicksale wird dadurch besser abgebildet.
Keinen Sinn machen auch die zahlreichen Antisemitismusbeauftragten auf Bundes- und Landesebene. Sie verbrauchen Geld, das den Gemeinden für ihre Arbeit fehlt, und sie sind nicht in der Lage bzw. dazu nicht bereit, wirksame Hilfe vor Ort zu leisten, wenn die Jüdischen Gemeinden diese benötigen bzw. überhaupt benötigen würden. Letzteres ist wohl eher der Fall. Probleme lassen sich nicht von einem in der Landeshauptstadt befindlichen Büro lösen, sondern nur vor Ort.
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