Die wissenschaftliche "Elite"
Jede Person, die in der DDR in einer wissenschaftlichen Einrichtung in der Forschung oder der Lehre tätig war, wurde von den Siegern der Revolution und ihren Partnern aus der Bundesrepublik Deutschland pauschal als abzuwickeln eingeordnet. Die Abzuwickelnden gehörten nach ihrer Auffassung zur intellektuellen Elite der DDR, die für die Durchsetzung ihrer Machtinteressen ein Hindernis darstellen könnte.
(Einschub: Nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 legten die deutschen Besatzer ein Hauptaugenmerk darauf, die Elite des Landes auszuschalten. Was auch die Sowjetunion tat, nachdem sie sich einen Teil Polens unter den Nagel gerissen hatte (z.B. in Katyn). Die Elite Polens, sofern sie nicht vorher fliehen oder in die Illegalität abtauchen konnte, wurde in Konzentrationslager geschickt bzw. umgebracht.)
Bildungseinrichtungen der SED und der Blockparteien sowie der Jugendorganisation und der Gewerkschaften sowie auf irgendeine Weise direkt dem Staatsapparat unterstellt (wie z.B. die Hochschule der Staatssicherheit in Potsdam-Golm), wurden als Erste abgewickelt. In den Hoch- und Fachschulen sowie Universitäten kamen, nach dem Prinzip "Teile und Herrsche" zunächst alle dran, die im Grundlagenstudium Marxismus-Leninismus tätig gewesen waren. Ohne ihnen eine Chance des Widerspruchs zu geben, wurden sie in die Arbeitslosigkeit geschickt.
Danach erfolgte die Säuberung der gesellschaftswissenschaftlichen und juristischen Fakultäten. Offiziell wurden die Lehrkräfte einer Evaluation unterzogen, d.h. einer Bewertung ihrer fachlichen Leistungen. Die Evaluierenden waren aber Personen, die selbst auf eine Festanstellung aus waren oder auf diese Weise wissenschaftliche Konkurrenz loswerden wollten.
Wer in der DDR eine wissenschaftliche Forschungsarbeit schreiben wollte, musste ein Thema finden und mit ausführlichen Literatur- bzw. Forschungsberichten nachweisen, dass dieses durch keinen anderen Wissenschaftler bearbeitet worden war. Dazu wurden sämtliche deutschsprachige Literatur und die Forschungsarbeiten erfasst und ausgewertet sowie die der Sowjetunion und anderer sozialistischer Länder. Je nach Sprachkenntnissen und Relevanz bezog die Auswertung auch andere Länder Europas und die USA mit ein. Deswegen kannten viele der abzuwickelnden Wissenschaftler ihre Abwickler und deren wissenschaftliche Leistung. Während umgekehrt das nur sehr selten der Fall war. Für die Abwickler war das jedoch nicht von Bedeutung. Sie hatten einen Auftrag: die wissenschaftliche Landschaft der DDR nach bundesdeutschen Vorgaben umzugestalten und deren Protagonisten nachhaltig aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen. Sie hatten ein persönliches Interesse: Die bisherigen Arbeitsplätze der von ihnen evaluierten Personen zu besetzen und die darunter liegenden Stellen mit ihnen bekannten und verpflichteten bzw. hörigen Leuten zu besetzen.
Die zu Evaluierenden hatten in den meisten Fällen keine Chance auf eine faire Behandlung. Hochqualifizierte und international bekannte Wissenschaftler mussten sich mit ihrer Herabevaluierung abfinden und dankbar sein, dass man ihnen noch eine minimale Chance der Weiterbeschäftigung gab.
Die Flure der wissenschaftlichen Einrichtungen waren in der Phase der Abwicklung und Evaluierung voll mit Personen, die Jagd auf die durch das Raster fallenden und orientierungslosen Wissenschaftler machten. Sie kamen von den verschiedensten Versicherungsgesellschaften, die Verkäufer suchten, oder machten dubiose Jobangebote. Es ist nie untersucht worden, wie hoch in dieser Zeit die Zahl der Selbsttötungen unter den Wissenschaftlern war oder frühzeitige Todesfälle bzw. plötzliche Suchterkrankungen.
Wer weiterleben wollte, auch weil man Familie hatte, musste sein bisheriges Leben vollständig hinter sich lassen. Nicht allen gelang das. Doch sie hatten keine andere Chance!
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